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Egoismus ist heute unter dem Schlagwort „gesunder Egoismus“ durchwegs positiv besetzt. Unzählige Psycho-Ratgeber und „Gschpürmi“-Kurse bedienen die Ich-Suche einer immer glückshungrigeren Kundenschar. Einer titelt: „Wie werde ich egoistischer?“ Und antwortet: „Überlegen Sie, in welchen für Sie wichtigen Bereichen Sie beginnen wollen, mehr an sich zu denken.“ Doch jetzt bestätigen selbst wissenschaftliche Experimente, dass die übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Ich krank macht.

Sich besser durchsetzen können, seinen Stress bewältigen, seine Ängste überwinden, mit Liebeskummer umgehen lernen, Traumata richtig verarbeiten, seine Gefühle ausdrücken, seinen Lebenssinn finden – die Liste an Ich-Findungs-Buch- und Seminarangeboten ist unendlich. Dahinter steckt das Bedürfnis vieler Menschen, mehr aus sich selbst zu machen bzw. wieder auf den durch eine gigantische Werbeindustrie angetriebenen Glückszug aufzuspringen. „Warum ein gesunder Egoismus hilfreich ist“, lese ich auf einer der zahlreichen Internet-Plattformen. Weil „Wohlbefinden und Gesundheit sogar davon profitieren, wenn man sich egoistisch zeigt – und nicht selbstlos“, lautet noch der Nachsatz. All das erinnert mich an den mir vor vielen Jahren humorvoll zugetragenen Psychologengruss: „Hallo, wie geht´s mir heute?“

Doch zu viel Beschäftigung mit dem eigenen Ich, zu viele Gedanken über das eigene Wohlbefinden und die eigene Gesundheit, permanentes Überprüfen des eigenen Zufriedenheits- und Glücksbarometers ist gefährlich. Wer nur sein eigenes Ich vor Augen hat, entfernt sich paradoxerweise immer weiter davon. Je mehr man um sein Seelenheil bangt, umso mehr produziert man neue unheilvolle Psycho-Wehwehchen. „Man sollte sich nicht andauernd mit seiner Psyche befassen“, sagt zum Beispiel der Kölner Psychiater Manfred Lütz. Schon 2002 fanden Psychologen aus Chicago heraus, dass eine übertriebene Aufmerksamkeit auf sich selbst zu Schwermut, Depressionen und Ängsten führen kann. 2011 zeigte die amerikanische Psychologin Iris Mauss, dass Menschen, die immerfort ihre eigene Zufriedenheit hinterfragen, weniger zufrieden sind als jene, die kaum darüber nachdenken. Wer beispielsweise versucht, die positiven Emotionen zu vermehren, erreicht oft genau das Gegenteil, während sich das Akzeptieren-Lernen negativer Emotionen vorteilhaft auswirkt. Durch die gesteigerte Psycho-Nabelschau unter dem Vergrösserungsglas verwandelt sich jede Psycho-Mücke in einen Psycho-Elefanten. Was früher als normales Auf und Ab des Lebens galt, wird heute problematisiert oder gar pathologisiert. Wer einfach nur schüchtern ist, leidet unter sozialer Phobie, Jähzorn ist eine Impulskontrollstörung, Dünnhäutigkeit ist Hypersensibilität.

Wie jede fehlgeleitete Suche zur Sucht führen kann, ist auch die Ich-Suche vielfach zur Ich-Sucht geworden. Ein gesunder Egoismus ist immer noch Egoismus. Und Egoismus ist in allen Weisheitstraditionen und Religionen das antagonistische Prinzip par excellence für die Selbstverwirklichung des Menschen. Für Schiller ist Egoismus Einsamkeit. Und diese Krankheit unserer westlichen Gesellschaft ist trotz Facebook-Freunden und likes nicht zu übersehen.

Dem Selbstsüchtigen fehlt Selbstliebe

Während Freud Selbstliebe noch mit Narzissmus gleichsetzt, erkennt der Psychologe Erich Fromm, dass zwischen der Nächsten- und der Selbstliebe keinerlei Widerspruch besteht. Dies findet sich auch schon im biblischen Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Liebe ist grundsätzlich unteilbar, weshalb man die Liebe zum anderen nicht von der Liebe zum eigenen Selbst trennen kann. Liebe ist eine Form des Bejahens des Lebens, des Glücks und des Wachstums des Geliebten. Jede Form von Liebe für sich selbst, für die eigene Familie, für die eigene Nation, aber nicht für einen anderen, nicht für einen „Fremden“, zeigt, dass man im Grunde nicht zur Liebe fähig ist. Am besten hat dies wohl Meister Eckhart auf den Punkt gebracht: „Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen.“

Daher ist die Selbstsucht, das Desinteresse am anderen, die Anti-Liebe. Nur dass der Selbstsüchtige auch sich selbst nicht liebt. In seinem Versuch, dem Leben die Befriedigung krampfhaft zu entreissen, kompensiert er die Unfähigkeit, sich selbst zu lieben. Dies zeigt Fromm am Beispiel der überfürsorglichen Mutter. Sie ist übertrieben besorgt, nicht weil sie ihr Kind so sehr liebt, sondern weil sie damit ihre Unfähigkeit zu lieben kompensiert. Ähnlich bei der neurotischen Selbstlosigkeit: hier wird eine subtile Lebensfeindlichkeit und Ich-Bezogenheit hinter einer „Nichts-für-sich-selbst-wollen-Fassade“ verborgen.

Fromm erkennt im modernen Kapitalismus die Ursache für den Verfall der Selbst- und Nächstenliebe. Ähnlich den alle Lebensbereiche dominierenden Gesetzen des Marktes geht es auch in den Beziehungen um den Austausch persönlicher Vorzüge und um ein faires Geschäft. Die glückliche Ehe wird selbst in einschlägigen Fachartikeln mehr wie ein reibungslos funktionierendes Team beschrieben, eine „gut geölte Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang fremd bleiben“. Die Beziehung als ein „Egoismus zu zweit“, um sich das Leben gegenseitig ein wenig zu erleichtern und der Einsamkeit zu entfliehen. Beziehungen als nutzenbringende Gebrauchsware, der Mensch selbst als Gebrauchsware am Arbeitsmarkt, gekauft und verkauft nach den jeweiligen Marktbedingungen. Das alles hat zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst und von seinen Mitmenschen geführt. Und die solcherart Entfremdeten sind mit ihrem Bedürfnis, sich selbst wieder zu spüren und zu sich selbst zurückzufinden, die Kunden der Psycho- und Esoterikindustrie. Hier schliesst sich der Kreis.

Wenn das Herz krankt

Im alten Ägypten war Egoismus eine Eigenschaft des Herzens. Der Begriff wn-jb bedeutet wortwörtlich „raffgierig in Bezug auf das Herz“, weshalb er auch oft mit Habgier übersetzt wird, was allerdings zu kurz greift. In einem der ägyptischen Texte heisst es dazu: Egoismus ist „eine schwere, unheilbare Krankheit, die man nicht behandeln kann. Er entfremdet Väter und Mütter samt den Brüdern, er vertreibt die Gattin.“ Darin kommt zum Ausdruck, dass der Egoismus die zwischenmenschlichen Beziehungen zerstört und somit den extremen Gegenpol zum Gemeinsinn und zur Solidarität darstellt. Egoismus zerstört die Person und die Gemeinschaft, er gilt als asozialer Eigenwille, der nur auf Selbstdurchsetzung und Selbstbehauptung ausgerichtet ist. Damit verhindert er die zwei wesentlichen Elemente von Kultur: das Füreinander-Handeln und das Aufeinander-Hören.

Denn Egoismus zeigt sich zum einen in der Unfähigkeit zuzuhören und den anderen zu verstehen. Und wo das Zuhören, das Verstehen und damit die Kommunikation aufhören, beginnt die Gewalt. Das andere Gesicht des Egoismus ist das Nicht-Handeln, die Trägheit. Eine Art Verantwortungslosigkeit gegenüber den anderen, der Zerfall des Netzes der Solidarität. Die Ägypter nennen es soziale Vergesslichkeit. Denn solidarisches Handeln braucht eine Verbindung mit der Vergangenheit und nicht nur ein Kalkulieren nach der Interessenslage des jeweiligen Augenblicks.

Alle drei gemeinsam, das Nicht-Aufeinander-Hören, das Nicht-Füreinander-Handeln und der Egoismus, widersprechen dem zentralen Konzept der altägyptischen Kultur: Ma´at. Oft wird Ma´at mit Gerechtigkeit, dann wieder mit Wahrheit oder Ordnung übersetzt. Doch es ist alles zugleich, es kommt unserem Begriff „Gemeinschaftskunst“ am nächsten. Denn Ma´at ist das Prinzip der Verbindung. Die Verbindung des Menschen mit sich selbst, das heisst eine Verbindung zwischen dem, was wir tun und sagen und unseren Absichten dahinter, also mit unserem Herzen. Als solche ist sie Wahrhaftigkeit bzw. Wahrheit. Aber auch die Verbindung der Menschen untereinander, eine Gemeinschaft von Herz zu Herz, nicht einfach eine Zweckgemeinschaft. Als solche ist sie Gerechtigkeit. Und schliesslich eine harmonische Verbindung aller Dinge untereinander. Als solche ist sie Ordnung.

Das menschliche Organ, das zu dieser Art von Beziehung – Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung – fähig ist, ist das Herz. Daher wurde auch am Ende des Lebens, im berühmten ägyptischen Totengericht, die Feder als Symbol der Ma´at gegen das Herz gewogen. War das Herz schwerer, hatte es also gegen Wahrheit-Gerechtigkeit-Ordnung gehandelt, wurde es von einem Ungeheuer verschlungen, was man als eine Rückkehr auf die Erde interpretieren kann, um die menschliche Lektion noch besser zu lernen.

Denn Ma´at ist nicht mit der Schöpfung quasi gratis mitgeliefert, sondern muss permanent vom Menschen geschaffen, erhalten und erneuert werden. Und der einzelne muss dahingehend erzogen werden. Denn das unerzogene Herz ist egozentrisch und egoistisch, es muss gebändigt und sozialisiert werden, es muss zum Miteinander und zur Solidarität transzendiert werden. Für den Ägypter begann das Leben nicht mit der Geburt, sondern mit der Erziehung. „Der eine lebt, wenn der andere ihn leitet“, lautete ein Sprichwort. Ma´at ist also die Folge von Kultur, Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Das Gesetz der rohen Natur ist dagegen jenes von Zerfall und Auflösung ins Chaos. Und wo gegen Ma´at durch ihre drei Widersacher, allen voran den Egoismus, verstossen wird, führen Lüge, Ungerechtigkeit und Unordnung a la longue zum Zerfall.

Ma´at heute

Das Samenkorn unserer individuellen Glücks- und Strebensethik wurde von Aristoteles gepflanzt. Heute leben und erleben wir nicht den daraus gewachsenen gesunden Baum, sondern seine Auswüchse und Krebsgeschwüre: Individualismus statt Individuum, Spass statt Glück, Streben nach Haben anstatt nach Sein. Wie Erich Fromm schon 1956 formulierte: „Die wirtschaftliche Situation spiegelt die Hierarchie der Werte wider. Das Kapital regiert die Arbeitskraft; angesammelte tote Dinge besitzen mehr Wert als das Lebendige […] Die grossen Unternehmen dehnen sich ständig weiter aus, und die kleineren werden von ihnen erdrückt. […] Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in grosser Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflusst werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen.“ Mit einem Wort, der moderne Kapitalismus braucht (gesunde) Egoisten.

Doch wo immer sich Extreme zuspitzen, kommt es zu Gegenbewegungen. Gemeinwohlökonomie, Tauschkreise, Sharing-Konzepte aller Art und vieles mehr schwören dem Individualismus und Egoismus ab und setzen auf eine neue Solidarität. Einiges davon habe ich genauer unter die Lupe genommen und bin zu folgendem Ergebnis gekommen: neu und solidarisch sind die Systeme, aber noch nicht automatisch die Menschen in diesen Systemen. Und hier sehe ich die grosse Herausforderung: nicht nur mit unserem Kopf neue Systeme erdenken, sondern sie mit unserem Herzen leben. Das Herz braucht Erziehung – zum Aufeinander-Hören und Verstehen, zum Füreinander-Handeln und zu einem Willen zum Miteinander. Vorschlag? Ein Gemein-Wohlbefinden-Seminar…

Literatur:
Erich Fromm, Die Kunst des Liebens
Jan Assmann, Ma´at – Gemeinschaftskunst im alten Ägypten

© Dr. Mag. Hannes Weinelt, Abenteuer Philosophie Magazin

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